Alles über innere Kraft
Teil 1
Begriffsklärung und Geschichte
Das Vorwort sowie eine Übersicht der einzelnen Artikel dieser Serie sind hier zu finden.
Das Iron Wire Set des südlichen Shaolin Kung Fu
ist eine besonders kraftvolle Trainingsmethode
Was ist innere Kraft?
Die Bezeichnung „innere Kraft“ ist eigentlich selbsterklärend. Es handelt sich im Gegensatz zu muskulärer Kraft um Kraft, die von innen kommt und zumeist auch innerlich trainiert wird. Im Englischen verwenden wir die Bezeichnung „internal force“ (Ja, so wie in Star Wars...). In den klassischen chinesischen Überlieferungen wurde der Begriff Nei Gong verwendet, um die innere Kultivierung zu bezeichnen. Nei Gong zählt neben Chin-Na und Dim-Mak zu den 3 Schätzen des Shaolin Kung Fu.
Der Begriff Nei Gong wurde später durch den heute geläufigen Namen Qi Gong ersetzt. Während Nei Gong für „innere Kunst“ steht, bedeutet Qi Gong „Kunst der Energie“. Beide Bezeichnungen sind sehr passend, schließlich ist die aus der Praxis gewonnene Kraft innerlich und dessen Grundsubstanz ist Qi, also Energie.
Eine Redewendung im Kung Fu-Training ist:
Internally, train mind, energy and essence;
externally, train tendons, bones and muscles.
(Innerlich trainiere Geist, Energie und Essenz;
äußerlich trainiere Bänder, Knochen und Muskeln.)
Hochwertiges, traditionelles Training macht also nicht von Liegestützen oder Hanteltraining Gebrauch, sondern stützt sich auf innere, meditative Methoden der Kultivierung wie Qi Gong. Das Tragen von Wassereimern, das Schlagen auf Sandsäcke und andere körperliche Trainingsarten werden als drittklassig angesehen. Diese „Wasserbüffelmethoden“ können – vernünftig eingesetzt – das innere Training jedoch ein wenig unterstützen. In Shaolin Wahnam legen wir aber keinen besonderen Wert darauf.
Unter externem Training verstehen wir vielmehr die Ausführung von Kung Fu-Sets und -Techniken. Das stille, innere Training, wie Zhan Zhuang oder „Abdominal Breathing“ sollte also stets mit bewegten Übungen ausgeglichen werden.
Innere Methoden im Laufe der Geschichte
In alten Zeiten in China hatten nur wenige die Gelegenheit innere Methoden zu lernen, da dieses Training nur an ausgewählte und treue Kampfkunstschüler, die ihre Moral und Hingabe unter Beweis gestellt hatten, weitergegeben wurde. Wenn man überhaupt einen Meister fand, der über diese verfügte, wurde man oft erst nach Jahrzehnten harten, externen Trainings darin eingeweiht.
Aber auch von jenen Praktizierenden, denen innere Methoden bekannt waren, war nicht jeder erfolgreich. Aufgrund von fehlendem Hintergrundwissen dauerte es meist viele Jahre bis ein merkbares Niveau erreicht wurde, wodurch damals wie heute nur wenige herausragende Meisterschaft erlangten. Jene, die in ihrem Training hin und wieder unbewusst optimale Bedingungen, wie die richtige Geisteshaltung und einen angeregten Energiefluss, für den Aufbau innerer Kraft herbeiführten, waren zwar in einzelnen Trainingseinheiten erfolgreich, ihnen fehlte aber die stetige Kontinuität für beständiges Wachstum. In der Zeit bis sie wieder eine erfolgreiche Trainingseinheit absolviert hatten, war die beim letzten Mal gesammelte Energie bereits wieder aufgebraucht.
Darum gehen wir davon aus, dass selbst in den Shaolin-Tempeln, wo Wissen und ideale Bedingungen vorhanden waren, nicht jeder erfolgreich war und so nur etwa 70% der Mönche innere Kraft entwickeln konnten. Hinzu kommt, dass Shaolin Kung Fu damals wie heute hauptsächlich als extern angesehen wurde. Viele erfolgreich Praktizierenden realisierten dadurch gar nicht, dass sie aufgrund ihr beständiges Training unbewusst innere Kraft erlangt hatten.
Das Standtraining ist eine der wichtigsten Methoden zur
Entwicklung innerer Kraft
Durch die zunehmende Verwestlichung und Degeneration von Kung Fu, verwenden die meisten Schulen heutzutage moderne Fitnessübungen um „äußere“ Muskelkraft aufzubauen. Deshalb verfügt heute, obwohl das theoretische Wissen um die inneren Methoden weit besser zugänglich wäre, nur mehr ein kleiner Bruchteil der Kampfkünstler über innere Kraft.
Dank unseres systematischen Trainings in Shaolin Wahnam und dem Wissen um entscheidende Geheimnisse und Voraussetzungen, können wir getrost sagen, dass alle unsere Schüler imstande sind innere Kraft zu generieren und von ihr in der Kampfkunst sowie im alltäglichen Leben zu profitieren. Die wenigen Schulen, die überhaupt innere Kultivierung betreiben, verfügen zumeist nur über ein paar oder gar nur eine Methode zur Entwicklung innerer Kraft. Daher freut es uns, dass wir aus einem sehr breiten, stilübergreifenden Repertoire schöpfen können.
Autor: Sifu Leonard Lackinger
Die Serie „Alles über innere Kraft“:
Hier geht's zu
- Teil 1 - Begriffsklärung und Geschichte
- Teil 2 - Entscheidende Erkenntnisse und die Funktionen innerer Kraft
- Teil 3 - Ein Vergleich zu Muskelkraft
- Teil 4 - Innere Kraft in der Kampfkunst
- Teil 5 - Negative Auswirkungen fehlerhaften Trainings
- Teil 6 - Verschiedene Arten innerer Kraft
- Teil 7 - Fließen und Verdichten, zwei gegensätzliche Pole
- Teil 8 - Flow Method und Force Method
- Teil 9 - Wichtige Entdeckungen zu „Flow Method“ und „Force Method“
- Teil 10 - Weitere Klassifizierungen
- Teil 11 - Techniken zur Entwicklung innerer Kraft
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Links:
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