Alles über innere Kraft
Teil 7
Fließen und Verdichten
zwei gegensätzliche Pole
Neue Entdeckung im Einklang mit den Klassikern
Generell dienen Unterscheidungen von innerer Kraft der Orientierung und sind keine strikten Abgrenzungen. So kommt es oft zu Überschneidungen und fließenden Übergängen. Dennoch trägt die Einteilung dem Verständnis bei uns fördert somit unseren Fortschritt.
Unser Großmeister, Wong Kiew Kit, entdeckte zwei grundsätzliche Charakteristiken von innerer Kraft, die sich in ihrer Natur unterscheiden. Chi kann entweder fließen, was wir als „Flowing Force“ (fließende innerer Kraft) bezeichnen, oder sich verdichten, was wir „Consolidated Force“ (konsolidierte / verdichtete / gebündelte innere Kraft) nennen.
Da diese Unterscheidung nicht in den Klassikern beschrieben und überliefert wurde, ergab sich ein in der Geschichte der antiken, chinesischen Künste bisher wohl einzigartiges Ereignis. Normalerweise werden chinesische Begriffe in westliche Sprachen übersetzt. Da die Philosophie um die Natur innerer Kraft zuerst in englischer Sprache verfasst wurde, mussten nachträglich passende, chinesische Namen formuliert werden. So wurde die chinesische Kampfkunstphilosophie um die Begriffe „Xing-Fa“ für Flowing Force und „Jing-Fa“ für Consolidated Force bereichert.
Xing-Fa
Flow Method
Jing-Fa
Force Method
Hart und weich?
Häufig stimmen Consolidated Force und Flowing Force mit den klassischen Beschreibungen von „harter“ und „weicher“ Kraft überein.
The force from Wudang Taijiquan is soft and flowing.
One feels graceful and agile.
The force from Iron-Wire is hard and consolidated.
One feels powerful and solid.
- Großmeister Wong Kiew Kit
(Die innere Kraft aus dem Wudang Taijiquan ist weich und fließend.
Man fühlt sich anmutig und agil.
Die innere Kraft aus Iron-Wire ist hart und verdichtet.
Man fühlt sich kraftvoll und stabil.)
Diese Übereinstimmung trifft jedoch nicht immer zu. Verdichtete innere Kraft ist zwar üblicherweise hart und fließende Kraft zumeist weich, jedoch kann es auch zu anderen Kombinationen kommen. Teilnehmer am Iron Wire-Kurs in Barcelona beschrieben die generierte „Force“ als hart und ungewöhnlich fließend, während Teilnehmer an einem Tai Chi Chuan-Kurs in Irland ihr Resultat als weich und überraschend konsolidiert empfanden.
Eine weitere Ähnlichkeit lässt sich mit den klassischen fünf Tieren des Shaolin Kung Fu herstellen. Die Schlange steht für Energiefluss, also sozusagen Flowing Force. Der Tiger verkörpert allgemein innere Kraft, wobei sich diese zumeist gebündelt manifestiert. Aber auch hier kann es vorkommen, dass Schlangentechniken sich verdichteter Energie bedienen und Tigertechniken fließender. Der Leopard steht übrigens neben Schnelligkeit für Muskelkraft, also äußere Kraft (chin. „Li“).
Verschiedene Charakteristiken
Der in Shaolin Wahnam allgegenwärtige Chi Flow steht für angeregten Energiefluss. Ist dieser Fluss voluminös und kraftvoll, sprechen wir von weicher, fließender Internal Force. Die Energie verhält sich wie fließendes Wasser in einem rauschenden Fluss.
Bündelt sich viel Energie an einer Stelle und verdichtet sich, zumeist im Gewebe des Praktizierenden, sprechen wir von konsolidierter innerer Kraft. Durch diese Verdichtung kann es sogar dazu kommen, dass man an Gewicht zulegt, ohne dass dies äußerlich sicht- oder messbar wäre. Das Ergebnis ist mit einem Gletscher zu vergleich, der zwar starr erscheint, jedoch stets in Bewegung ist.
Wer seine Muskeln durch Belastung und Anspannung trainiert, beispielsweise mit Hanteln, bündelt seine Energie ebenfalls und legt an Muskelmasse zu. Dieser Vorgang ist jedoch mit einem gefrorenen Eisblock zu vergleichen, in dem keine Bewegung herrscht. Die gespeicherte Energie hängt lokalisiert fest und kann im Bedarfsfall nicht zur Versorgung der Organe abgezogen werden, wie es bei konsolidierter innerer Kraft jedoch jederzeit möglich ist.
Wie Wasser kann auch innere Kraft
fließen oder sich verdichten.
Gegensätze ziehen sich an
Für die meisten Praktizierenden, früher wie heute, gilt die Regel, dass man weiche und harte Kraft nicht zur gleichen Zeit trainieren sollte, da sich die Effekte gegenseitig aufheben. Wird in einer Trainingseinheit Energie zum Beispiel mit Zwei-Finger-Zen verdichtet, würde sich diese bei einer weiteren Trainingseinheit der äußerst fließenden Wolkenhände wieder lösen und in den regulären Energiefluss übergehen. Wird umgekehrt zuerst der Energiefluss durch die Wolkenhände verstärkt, würde dieser bei der verdichtenden Übung wieder gebremst. Der Effekt wäre bei beiden Vorgehensweisen gleich Null.
Doch obwohl sich diese beiden Methoden eigentlich gegenseitig aufheben, raten wir Schülern in Shaolin Wahnam dennoch sie zu kombinieren. Dank unserem Chi Flow können wir die innere Kraft spontan, je nach Bedarf, umwandeln. Aber nicht nur das! Die beiden Methoden unterstützen sich sogar gegenseitig und schaukeln das Ergebnis so zusätzlich hoch.
Ein gutes Beispiel hierfür ist, dass wir den Effekt des Standtrainings (konsolidierend) verbessern indem wir hinterher in den Chi Flow (fließend) gehen.
Lassen wir unsere Energie in entsprechenden Übungen fließen, hilft uns der verbesserte Fluss bei anderen Übungen mehr Energie zum Verdichten zu bewegen.
Somit haben wir mit dem Chi Flow einen ständigen Konverter. Ein unglaublicher Vorteil, über den die früheren Meister sicher begeistert gewesen wären und uns völlig neue Möglichkeiten, wie eben die effektive Praxis verschiedener Künste und Methoden zugleich, verschafft.
Die folgende Analogie soll das veranschaulichen. Wir brauchen auf einer Rundreise nicht einen Stapel Bargeld der jeweiligen Landeswährungen mitzunehmen, sondern zahlen einfach überall mit der Kreditkarte. Der jeweilige Betrag wird automatisch umgewandelt und von unserem Depot abgebucht.
Ebenso bauen wir bei jeder Übung einfach mehr universell verwendbare Energie auf, die wir dann jederzeit zum Fließen oder Verdichten bringen können.
Das Dragon Strength Chi Circulation Set kombiniert
sowohl fließende als auch verdichtende Techniken
Autor: Sifu Leonard Lackinger
Die Serie „Alles über innere Kraft“:
Hier geht's zu
- Teil 1 - Begriffsklärung und Geschichte
- Teil 2 - Entscheidende Erkenntnisse und die Funktionen innerer Kraft
- Teil 3 - Ein Vergleich zu Muskelkraft
- Teil 4 - Innere Kraft in der Kampfkunst
- Teil 5 - Negative Auswirkungen fehlerhaften Trainings
- Teil 6 - Verschiedene Arten innerer Kraft
- Teil 7 - Fließen und Verdichten, zwei gegensätzliche Pole
- Teil 8 - Flow Method und Force Method
- Teil 9 - Wichtige Entdeckungen zu „Flow Method“ und „Force Method“
- Teil 10 - Weitere Klassifizierungen
- Teil 11 - Techniken zur Entwicklung innerer Kraft
Ähnliche Themen:
Die 4 Dimensionen des Kampfkunst-Trainings
Ganzheitliches Kampfkunst-Training wie im Shaolin Kung Fu und Tai Chi Chuan
sollte stets 4 Aspekte beinhalten: Form, Kraft, Anwendung und Theorie
Die Wichtigkeit des Standtrainings im Kung Fu
Zhan Zhuang ist ein essenzieller Bestandteil des Kampfkunst-Trainings.
Die Stände verleihen eine stabile Basis, einen klaren Geist und vor allem innere Kraft.
Die 3 Entwicklungsstufen und 5 Kategorien des Qi Gong
Die Qi Gong-Praxis kann in 3 Stufen eingeteilt werden.
Außerdem kann man die Art der Übungen und Ziele in 5 Kategorien einordnen.
Das Privileg des Übertrainings im Qi Gong
In Wahnam sollten wir darauf achten es nicht mit dem Energie-Training zu
übertreiben. Was ist Übertraining und was kann man dagegen tun?
Links:
How Grandmaster Wong discovered Flowing Force and Consolidating Force
10 Questions to Grandmaster Wong on Secrets of Building Internal Force
10 Questions to Grandmaster Wong on Cleansing, Building and Nourishing
Artikelübersicht:
Wie kannst du mit uns trainieren?
vor Ort in 1020 Wien
Online