Die Bedeutung der klassischen
fünf Tiere im Shaolin Kung Fu
Die fünf Tiere des Shaolin Kung Fu
Teil 1
Ng Yein
(Kantonesisch)
Wu Xing
(Mandarin)
Die fünf Tiere
Die Tierformen des Shaolin-Kung Fu, bestehend aus Drache, Schlange, Tiger, Leopard und Kranich, sind ein sehr bekanntes Konzept. Die imposanten Imitationen von Tierbewegungen sind ein beliebter Hingucker bei jeder Vorführung. Doch was steckt eigentlich dahinter?
Praktizierende haben nicht vor durch die Ausübung ihres Kung Fu zum Tier zu werden. Solange es sich um klassisches Kung Fu handelt und nicht um modernes Wushu, ist es auch nicht das Ziel die jeweiligen Tiere äußerlich möglichst originalgetreu zu imitieren. So greift man den Gegner auch nicht auf allen Vieren laufend an oder schlängelt sich am Boden liegend auf ihn zu.
Während sich die übliche Betrachtungsweise – wie so häufig – eher auf oberflächliche Dinge beschränkt, geht es vielmehr darum gewisse Qualitäten der diversen Tiere in den Kung Fu-Techniken auszudrücken. Viele Patterns (Techniken) können auch äußerlich deutlich einem der Tierstile zugeordnet werden, doch eigentlich geht es weniger um das Erscheinungsbild als um innere, teils unsichtbare Charakteristiken.
Als unser Großmeister, Wong Kiew Kit, in seinen jungen Jahren einen Klassiker über die fünf Tiere las, wunderte er sich noch, dass sich die Darstellungen der einzelnen Tierformen kaum voneinander unterschieden. Erst Jahre später realisierte er, dass die inneren Komponenten den Unterschied ausmachen.
In den „72 Shaolin Arts“, die in Shaolin Wahnam praktiziert werden, ist diese Manifestation als „Hei Sai“ (Energy-Spirit / Energie-Geist) angeführt. Den äußerlichen Bewegungen soll also der „Spirit“, das Temperament, bzw. die Essenz des jeweiligen Tiers eingehaucht werden.
Somit haben die fünf Tiere hauptsächlich symbolischen Charakter. Mehr zu deren Bedeutung und deren Einfluss auf die Entwicklung von Kung Fu erfährst du jetzt in den folgenden Artikeln.
Die Bedeutung der fünf Shaolin-Tiere
Die fünf traditionellen Tierstile des Shaolin Kung Fu sind der Drache, die Schlange, der Tiger, der Leopard und der Kranich.
Die folgenden Auflistungen enthalten eine kurze Beschreibung der Tiere, deren innere Essenz bzw. Spirit, Merkmale der äußeren Form (der Bewegung), entsprechende Kung Fu-Techniken, typische Kung Fu-Sets und -Stile, passende Waffen, übliche Laute und schließlich die Spezialität des jeweiligen Tierstils.
Wie bei vielen Kategorisierungen im Kung Fu sind diese nicht absolut. Wir sollten nicht in Schubladendenken verfallen und nicht vergessen, dass Kung Fu lebendig ist. Insbesondere die Waffen sind nicht immer eindeutig zuzuordnen. Die angeführten Waffen und Waffen-Sets sind daher naheliegende Empfehlungen.
Der hungrige Tiger reißt eine Ziege
Der Drache
Auch wenn der Drache im Westen als kein „echtes“ Tier erachtet wird, so hat er in der chinesischen Philosophie und Mythologie seinen festen Platz und wird allerorts als Glücksbringer geschätzt. Er findet sich nicht nur in der Kunst, als Tierkreiszeichen in der Astrologie, im Feng Shui, in Tempeln und Mode wieder, sondern auch in der chinesischen Kampfkunst, wo er häufig als die höchste der Tierformen angesehen wird.
- Essenz:
-
Der Drache steht symbolisch für „Shen“, also den Geist und dessen Präsenz. Das Training von Drachen-Techniken entwickelt einen klaren, kraftvollen Geist und schärft den mentalen Fokus.
- Äußere Form:
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Drachen-Techniken zeichnen sich durch schwenkende, kurvige, majestätische, weiche und geschmeidige Bewegungen aus. Häufig bleiben die Füße an der gleichen Stelle stehen, während man Shen-Fa (Körperbewegung) einsetzt, um auszuweichen und sofort wieder zu kontern. Verteidigung und Angriff sind oft in einer einzelnen Pattern vereint. Als Handhaltung dienen häufig die „Dragon Palm“ (Handfläche) für Schläge, die „Drachen-Handform“ und „One-Finger Zen“ für Dim-Mak und manchmal die „Drachen-Klaue“.
- Im Alltag:
-
Die durch den Drachen-Spirit gestärkte Geisteskraft ist natürlich auch bei der Arbeit, Entscheidungsfindungen und der spirituellen Entwicklung von großem Nutzen.
- Typische Techniken:
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„Green Dragon Shoots Pearl“, „Swimming Dragon Plays with Water“
- Typische Sets & Stile:
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„Dragon Strength Chi Circulation Set“, „Dragon Form Set“, „Shaolin Travelling Dragon Pakua Set“, Wahnam Taijiquan, Dragon Kung Fu
- Passende Waffen:
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„Shaolin Travelling Dragon Sword“, Langstock, Speer, Sichelmond-Speer (Crescent-Moon Spear), dreiteilige Peitsche
- Häufige Laute:
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Schi!, Haah, Hooh
- Spezialität:
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„Dragon Speed“ („Lightning Speed“), „Dragon Force“ („Release Force“), geschärfte Wahrnehmung
Die Schlange
Durch ihre Wendigkeit, ihre weiche und runde Bewegungsart gleicht sie dem Verhalten von harmonischem Chi. Häufig wird die Schlange aufgrund von gewissen Ähnlichkeiten und wegen dem engen Zusammenhang von Energie und Geist auch als Erdendrache bezeichnet.
- Essenz:
-
Die charakteristische Eigenschaft der Schlange im Kung Fu ist „Chi“. Daher eignen sich Schlangen-Techniken besonders um den Energiefluss zu trainieren, ihn zu stärken und die Ausdauer zu fördern. Außerdem ist Chi die Grundsubstanz für innere Kraft.
- Äußere Form:
-
Die Bewegungen von Schlangen-Techniken sind einerseits weich und fließend, aber auch sehr zielgerichtet und direkt. Als Handhaltung dient zumeist die „Schlangen-Handform“, mit der zugestochen oder geschlitzt wird.
- Im Alltag:
-
Ein verbesserter Energiefluss fördert die Gesundheit, die Ausdauer und das Glück. Das Training von Schlangen-Form und Schlangen-Spirit ist hierbei sehr hilfreich.
- Typische Techniken:
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„Poisonous Snake Shoots Venom“, „White Snake Crosses Valley“, „Snake Basking in Mist“
- Typische Sets & Stile:
-
„White Snake Shoots Venom“, Yang-Stil Taijiquan
- Passende Waffen:
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Roped Spear (Seil-Speer), Schlangenkopf-Speer
- Häufige Laute:
-
Schhhss, Schi!
- Spezialität:
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Qi Flow, Flowing Force, Vitalpunkte angreifen, Gesundheit
Der Tiger
Während der Löwe als unangefochtener König der Tiere gilt, wird der Tiger gerne als König des Dschungels angesehen. Ein einzelner, explosiv und zugleich geschmeidig aussehender Schlag genügt dem Tiger zumeist, um seiner Beute das Genick zu brechen. Anstrengung ist ihm dabei keine anzumerken.
- Essenz:
-
In der Kampfkunst steht der Tiger für innere Kraft. Häufig wird erwähnt, dass Tigerformen die Knochen stärken also das „Gu“ Chi (Knochenenergie) fördern, welches wiederum aber ein weiteres Synonym für innere Kraft ist. Tiger-Techniken machen besonders von konsolidierter bzw. geballter innerer Kraft Gebrauch. Der Tiger steht ebenso für Mut und Wildheit.
- Äußere Form:
-
Wie es sich für eine (Groß-)Katze gehört, haben auch Tiger-Techniken eine geschmeidige, weiche Komponente. Vor allem drücken sie jedoch geballte Kraft und Überlegenheit aus. Typische Handformen sind die Faust und die „Tiger-Klaue“. Die häufig verwendeten „Tiger-Krallen“ sind aber nicht dazu gedacht den Gegner bloß zu kratzen, wie es in Filmen gerne dargestellt wird. Vielmehr dienen sie dazu das Fleisch herauszureißen, Energiepunkt zu lähmen oder Gelenke auszurenken.
- Im Alltag:
-
Innere Kraft verhilft uns dazu bei allen Dingen im Leben bessere Ergebnisse zu erzielen, egal ob bei der Arbeit, bei Hobbies oder in der Kampfkunst. Schüchternen und Verschlossenen verhilft der Tiger-Spirit zu Selbstvertrauen und dazu aus sich herauszugehen und Mut zu fassen.
- Typische Techniken:
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„Black Tiger Steals Heart“, „Hungry Tiger Snatches Goat“, „Fierce Tiger Descends Mountain“
- Typische Sets & Stile:
-
„Taming the Tiger“, „Iron Wire“
- Passende Waffen:
-
Großer Dreizack (Big Trident), Hellebarde (Guan Dao), Säbel, Sichelmond-Spaten (Crescent-Moon Spade), Rundhammer, Knüppel, Handäxte, Streitaxt
- Häufige Laute:
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Jaaa, Hör-ait!, Hrraaw, Tschaah
- Spezialität:
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Tigerklaue, Durchschlagskraft, Chin-Na (Hebel- und Grifftechniken)
Der Leopard
Leoparden zeichnen sich als hervorragende Jäger aus und können über kurze Distanzen rasende Geschwindigkeit aufnehmen. Nachdem sie sich leise herangeschlichen oder auf einem Baum gelauert haben, stürzen sie sich explosionsartig auf ihre Beute.
- Essenz:
-
Der Leopard zeichnet sich durch Schnelligkeit aus. Die Explosivität des Leoparden kommt dann zum Einsatz, wenn sofortige Handlung gefragt ist, zum Beispiel bei einem blitzschnellen Konter oder bei Kombinationen aus mehreren Schlägen. Eine weitere Charakteristik ist das Training von Muskelkraft, „Li“, eine Eigenschaft, die in Shaolin Wahnam keinen besonderen Stellenwert hat.
- Äußere Form:
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Leoparden-Techniken sind zumeist sehr direkt und verwenden die „Leoparden-Faust“, welche bei langen Fingernägeln unbedingt den Vorzug zur normalen Faust bekommen sollte.
- Im Alltag:
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Das Training des Leoparden-Spirits verhilft dazu alltägliche Aufgaben schneller erledigen zu können.
- Typische Techniken:
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„Golden Leopard Speeds through Forest“, „Golden Leopard Watches Fire“
- Typische Sets & Stile:
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„Twelve Fists of Choy-Li-Fatt“
- Passende Waffen:
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Schlangenkopf-Speer, Schlagstock (Tonfa), Rundhammer, Knüppel, Handäxte, Streitaxt
- Häufige Laute:
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Hör-ait!
- Spezialität:
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Blitzschnelle Konter, schnelle Schlagkombinationen
Der Kranich
Dieser grazile Vogel ist dafür bekannt seine Energie elegant auf einem Bein stehend zu konservieren, um sich dann plötzlich in Windeseile in die Lüfte zu erheben. Mit seinem Schnabel sticht er blitzschnell und zielgenau zu.
- Essenz:
-
Der Kranich trainiert „Jing“. Seine charakteristischen Eigenschaften sind Eleganz und Essenz. Mit Essenz ist hier gemeint, dass Bewegungen ohne Umschweife auf das Nötigste reduziert werden.
- Äußere Form:
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Die wohl häufigsten Kranich-Techniken sind Tritte. Aber auch sehr direkte Attacken mit dem „Kranich-Schnabel“, der typischen Handform, gegen Augen oder Genitalien sind seine Spezialitäten. Weißt du wie der Schnabel richtig eingesetzt wird? Außerdem kommt die „Phoenix-Eye Fist“ (Auge-des-Phönix-Faust) zum Schlagen auf Vitalpunkte zum Einsatz.
- Im Alltag:
-
Das Training des Kranich-Spirits verhilft auch im Alltag zu Eleganz. So wird man sich beispielsweise auch nicht plump und tollpatschig verhalten, wenn man zu einer Verabredung geht.
- Typische Techniken:
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„Crane Stands Amongst Cockerels“, „Satisfied Reincarnated Crane“
- Typische Sets & Stile:
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„San Zhan“, Wuzuquan, Fujian White Crane, Hap Ka (Lama Kung Fu)
- Passende Waffen:
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„Butterfly Knives“ (Schmetterlingsmesser), Doppelsäbel
- Häufige Laute:
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Haah, Hooh, Xi, Hmm
- Spezialität:
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Eleganz, keine Energie verschwenden, Vitalpunkte angreifen, plötzlicher Standortwechsel
Die eierlegende Wollmilchsau
Das Training der Tierstile dient also nicht der imposanten Darbietung, sondern stellt eine ganzheitliche Ausbildung für die Kampfkunst und den Alltag bereit, die viele wichtige Qualitäten entwickelt. Alle Aspekte unseres Seins, also Körper, Energie und Geist werden durch die Essenz der verschiedenen Tiere kultiviert.
Die fünf Tiere machen Shaolin Kung Fu nicht nur zu einer effektiven Kampfkunst, sondern auch zu einem exzellenten System für physische, emotionale, mentale und spirituelle Entwicklung.
- Großmeister Wong Kiew Kit
Wie bereits betont, ist die Technik allein nicht das Entscheidende. Wird ein Kranich-Kick, wie beispielsweise „Single Leg Flying Crane“, auf plumpe Weise ausgeführt, wird die Essenz des Kranichs nicht manifestiert. Fehlt einer Tiger-Pattern, wie „Fierce Tiger Descends Mountain“, die nötige innere Kraft, um den Gegner zu dominieren, muss man eher von einem Kätzchen als einem Tiger sprechen. Wird eine Schlangen-Technik verkrampft oder eine Leoparden-Technik langsam ausgeführt, verfehlt man deren typische Charakteristik. Ist der Geist bei einer Drachen-Technik nicht fokussiert, wird sie zu einer hohlen Hülle.
Während man bei der Ausführung einer Tierform zwar durchaus den Schwerpunkt auf deren jeweilige innere Essenz legen kann, so sollten doch stets die Qualitäten sämtlicher fünf Tiere zugleich verkörpert werden.
Das bedeutet, dass wir bei jeder Technik geistig präsent sind (Drache), Energie und Atem harmonisch fließen (Schlange), die Technik durch innere Kraft gestützt wird (Tiger), sowie schnell (Leopard) und elegant (Kranich) ausgeführt wird.
In den weiteren Artikeln dieser Serie siehst du Beispiele und Videos dafür, wie die Philosophie der Tierstile auf die Entwicklung von Kung Fu-Sets (auch Formen genannt) genommen hat und welche Tiere es im Kung Fu-Zoo noch gibt.
Autor: Sifu Leonard Lackinger
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