Der Shaolin-Gruß
Teil 1 - Allgemeines
Großmeister Wong Kiew Kit mit „Dragon and Tiger Appear“
Zu Ehren aller MeisterInnen
Jede unserer Trainingsstunden beginnt und endet mit dem Shaolin-Gruß.
Der Gruß gilt nicht bloß dem Lehrer/der Lehrerin, sondern vielmehr allen früheren MeisterInnen der Shaolin-Tradition.
Traditionell betritt der Meister oder die Meisterin zuletzt den Raum, in dem die SchülerInnen bereits warten. Das älteste Mitglied fordert die anderen Anwesenden auf, den Sifu, sowie alle früheren MeisterInnen zu begrüßen, worauf alle den Shaolin-Gruß zeigen. Dieses Ritual unterscheidet sich in verschiedenen Schulen und Stilen.
Auch beim Betreten und Verlassen des Trainingsraums im Kwoon erweisen wir dem Raum mit dem Gruß unsere Anerkennung.
Als Erkennungs- und Markenzeichen
Da der Meister oder die Meisterin immer mit dem Titel angesprochen wird, kann man Anhand der Anrede bereits ablesen woher sein oder ihr Kung Fu-Stil stammt.
So werden MeisterInnen des nördlichen Shaolin Kung Fu im dort vorherrschenden Mandarin-Chinesisch „Shifu“ genannt (Ja, Pos Ausbilder in Kung Fu Panda heißt daher übersetzt „Meister Meister“). Da wir in Shaolin Wahnam südliches Shaolin Kung Fu praktizieren, sprechen wir unseren Lehrer/unsere Lehrerin auf Kantonesisch mit „Sifu“ an. Im Hokkian-Dialekt, der häufig in der abstammenden Provinz Fujian gesprochen wird, wird „Suhu“ verwendet.
Auch die Handform des Grußes und im speziellen die in Teil 2 dieses Artikels erläuterten Begrüßungssequenzen im Kung Fu können einen eindeutigen Hinweis auf die Herkunft des ausgeübten Stils geben.
Da unsere Linie von den südlichen Shaolin-Tempeln abstammt, verwenden wir dafür „Drache und Tiger erscheinen“ (Dragon and Tiger Appear). Hierfür wird die linke, offene Hand vor dem Brustkorb wie ein Dach schräg über die rechte Faust gelegt. Symbolisch steht die offene Hand, auch „Dragon Palm“ genannt, für den Drachen und die Faust für den Tiger. Die symbolische Darstellung von Yin und Yang oder hart und weich, ist eine weitere Deutungsmöglichkeit.
Ebenso ähnelt die Handhaltung dem chinesischen Zeichen für „Ming“, also jene Dynastie, die die Shaolin-Mönche gegen die Quing-Dynastie verteidigen wollten.
Zum Teil wird im Wing Chun und anderen südlichen Stilen eine Variation verwendet, in der die linke Hand die rechte Faust umfasst anstatt geöffnet zu sein.
Anhänger der nördlichen Shaolin-Tradition grüßen sich mit „der Erleuchtete betet zu Buddha“ (Lohan Worships Buddha), also gefalteten Händen, einem unter Buddhisten allgemein sehr verbreiteten Gruß. Dass im nördlichen Shaolin Kung Fu dafür häufig nur die rechte Hand verwendet wird, beruht auf folgender Geschichte.
Bring deinen Geist hervor und ich werde ihn beruhigen
Der Überlieferung nach, bat Hui Ke den ehrwürdigen Bodhidharma, nachdem er bereits Qi Gong und Meditation von ihm erlernt hatte, immer wieder ihn weiter zu unterrichten. Eines Tages wartete er bei Schneefall darauf, dass der Meister von seiner Meditation zurückkehre.
Als Bodhidharma dann erschien und Hui Ke abwies, bettelte dieser ihn an und fragte ihn, wann er weitere Unterweisungen erhalten werde. Bodhidharma sagte, er würde ihn nur unterrichten, wenn der Schnee sich rot färbe.
Unter Einsatz seiner inneren Kraft riss sich Hui Ke seinen linken Arm ab, Blut strömte heraus und färbte den Schnee rot.
Bodhidharma und Hui Ke
„Was willst du lernen?“, fragte Bodhidharma.
„Mein Geist plagt mich.“, erwiderte Hui Ke.
„Bring deinen Geist hervor und ich werde ihn beruhigen.“
Hui Ke suchte nach seinem Geist, aber fand ihn nicht. „Seltsam, ich kann meinen Geist nicht finden. Ich habe keinen Geist!“
Ich habe deinen Geist beruhigt.“, sagte Bodhidharma. In diesem Moment erlangte Hui Ke die Erleuchtung.
Auch heute noch wird in vielen nördlichen Kung Fu-Stilen, in Andenken an den 2. Zen-Patriarch Hui Ke, nur mit der rechten, vor dem Brustkorb aufgestellten, Hand gegrüßt.
Der digitale Shaolin-Gruß
Um den traditionellen Shaolin-Gruß ins digitale Zeitalter zu transferieren, habe ich in Kooperation mit meinem Siheng, Sifu Andreas, ein Kürzel entworfen, welches im digitalen Schriftverkehr mit einem kleinen o (wie Otto) und einem Backslash gebildet wird: o\
So ist der Shaolin-Gruß in der Perspektive des/der Lesenden dargestellt.
Fazit
Der traditionelle Shaolin-Gruß ist ein Zeichen des Respekts und die Art und Weise der Handform verrät mehr über die Herkunft des jeweiligen Stils bzw. der Tradition der jeweiligen Schule. Insbesondere bei einer Begegnung mit asiatischen MeisterInnen, ersetz er das Händeschütteln.
Auch bei Treffen im Alltag verwenden wir gerne die traditionelle Handform des Shaolin-Grußes. So bietet er eine gute Alternative in Corona-Zeiten.
Falls man zum Zeitpunkt eines Aufeinandertreffens gerade etwas in der Hand hat, muss man den Gegenstand übrigens nicht unbedingt ablegen, sondern führt den Gruß einfach so gut wie möglich aus.
Mit einem Shaolin-Gruß an meine LeserInnen und alle früheren Meister, o\

Autor: Sifu Leonard Lackinger
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