Die Wichtigkeit des Standtrainings im Kung Fu

Die goldene Brücke

Zhan Zhuang, ein wichtiger Teil des Kung Fu-Trainings

Das Standtraining wird im Norden Chinas, wo Mandarin gesprochen wird, „Zhan Zhuang“ genannt. Manchmal wird es fälschlicherweise mit „auf Stelzen stehen übersetzt. Die sinngemäße Übersetzung ist jedoch „in Ständen stehen. Im Süden, wo überwiegend Kantonesisch gesprochen wird, spricht man von „Chat Ma, was wortwörtlich übersetzt „das Pferd aufzäumen bedeutet. Gemeint ist aber auch hier das „Standtraining.

Wer mit uns eine der Kampfkünste Shaolin Kung Fu oder Tai Chi Chuan trainiert, stellt schnell fest wie oft wir darauf hinweisen, wie wichtig das Training der Stände ist, und das hat mehrere gute Gründe.

Früher war es oft sogar üblich, dass Kung Fu-SchülerInnen über Monate oder Jahre nichts anderes gelernt und geübt haben, bevor sie erste Techniken erlernen durften.

Heutzutage steigen wir schneller ins Training der Techniken ein, aber das Standtraining wird immer ein wichtiger Teil unserer Praxis bleiben.

Die Basis jeder Kung Fu-Technik

Jede Technik im Shaolin Kung Fu und Tai Chi Chuan hat einen Stand als Basis. Hast du also die Stände gut verinnerlicht, hast du bereits die (untere) Hälfte jeder Technik erlernt.

Kung Fu-Stände haben viele Vorteile gegenüber der in den meisten Kampfsportarten praktizierten und vom westlichen Boxen inspirierten Beinarbeit.

Irrtümlich wird oft angenommen, dass die Stände im Kung Fu zu starr, steif und unbeweglich für den Kampf sind. Natürlich bedarf es ausreichend Übung, aber letztendlich sind sie überragend. Im Vergleich zur Beinarbeit der meisten Kampfstile, verleihen die Stände des Kung Fu große Stabilität. In Yin-Yang-Harmonie gewährleisten sie aber gleichzeitig Agilität.

Über die Jahrhunderte haben sich die idealen Standpositionen herauskristallisiert, die zu jeder Zeit größtmöglichen Schutz verschaffen, um zum Beispiel nicht so leicht von einem überraschenden Tritt in den Schritt getroffen zu werden.

Der Wechsel von einem Bow-Arrow-Stance (Bogenstand) in einen False-Leg-Stance (leerer Stand) ist blitzschnell möglich und genügt bei den meisten Attacken, um in Sicherheit zu kommen. Diesen raschen Standwechsel verwenden wir vor allem im Shaolin Kung Fu häufig.


Yin Yang Feuer Wasser

Hier verwende ich diesen Standwechsel beim Training einer Kampfsequenz mit Sifu. Interessanterweise verwenden wir beide die Technik „White Crane Flaps Wings“.
Kung Fu ist lebendig!

Der eigentliche Hauptzweck des Zhan Zhuang

Die meisten Kung Fu-Schulen legen heutzutage keinen Wert mehr auf das Standtraining. Jene wenigen, die es auch heute noch praktizieren, machen es zumeist aus dem falschen Grund, nämlich als körperliches Ausdauertraining. In beiden Fällen ist der eigentliche Zweck des Standtrainings nicht bekannt bzw. im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen.

Was viele Praktizierende überraschen wird, ist, dass das Standtraining eigentlich eine Entspannungsübung ist. Die Kunst des Zhan Zhuang ist eine Form des stillen Qi Gong und fällt in die 2. Entwicklungsstufe, jener der Leistungssteigerung. Es ist anfangs die effektivste Methode, um das Qi zu stärken und so innere Kraft zu kultivieren. Zhan Zhuang schafft nämlich nicht nur die Basis für Kung Fu-Techniken sondern auch für die innere Kraft.

Die Stände korrekt auszuführen verleiht dir nicht nur Stabilität und Vorteile im Kampf, sondern sorgt auch dafür, dass das Qi im Dantian (einem wichtigen Energiezentrum im Unterbauch) bleibt und sich zugleich jederzeit optimal entfesseln lassen kann.

Ein weiterer wichtiger Faktor für das Zhan Zhuang-Training ist die Entwicklung geistiger Klarheit. Die stille Meditation ist ein effektives Werkzeug, um den Geist leer und kraftvoll zugleich zu machen.

Geheimnisse der inneren Kraft

Während im klassischen Training SchülerInnen meist dazu gedrängt wurden möglichst tief zu stehen, haben wir es einer weiteren Erkenntnis unseres Großmeisters zu verdanken, dass wir auf angenehmerer Höhe trainieren können.

Mussten SchülerInnen früher und anderswo auch heute noch Reisschalen oder Stöcke auf ihren im Reiterstand parallel zum Boden positionierten Oberschenkeln balancieren, hat unser Reiterstand eine Pyramidenform mit einer Schräge von ca. 45°. Durch diese Haltung werden wir wortwörtlich zum Trichter für einströmendes Qi. Das ermöglicht es dir noch effizienter Energie aufzubauen.

Schließlich ist der Schlüssel zum Erfolg im Qi Gong die Entspannung. Diese ist im rechteckförmigen Reiterstand, besonders für AnfängerInnen, nahezu unmöglich. Zu tief zu stehen resultiert also automatisch in eine körperliche Ausdauerübung. Wenn das Qi einen im Laufe der Zeit runterzieht und so den Schwerpunkt nach unten verlagert, lassen wir dies natürlich zu. Wir erzwingen es aber nicht, wenn wir noch nicht so weit sind.


Klassisches Standtraining

Jackie Chan unterrichtet seinen Schüler auf klassische Weise
die Goldene Brücke in einer witzigen Szene aus Forbidden Kingdom.
Ku Lian (bitteres Training) wie hier ist in Shaolin Wahnam nicht zu finden.


Anfangs üben wir alle Stände in einer Übungseinheit. Während wir die anderen weiterhin regelmäßig (zumindest 1-2 Mal pro Woche) wiederholen, können wir uns später auf den jeweils wichtigsten Stand der jeweiligen Kampfkunst konzentrieren und jenen weiter verbessern. Für Shaolin Kung Fu ist dies anfangs der Reiterstand und später die Goldene Brücke bzw. für Tai Chi Chuan anfangs der Ziegenreitstand und anschließend der 3-Kreise-Stand.

Um beim Aufbau innerer Kraft durch Zhan Zhuang erfolgreich zu sein, ist es notwendig stetig (also täglich) zu trainieren und graduell fortzuschreiten. Einmal am Tag ist allerdings genug und empfohlen, um Übertraining zu vermeiden. Wir beginnen mit einer individuellen Dauer, die gerade noch bequem zu schaffen ist, und steigern uns dann jede Woche ein kleines Bisschen.

Wichtig ist also dabei, dass man keine großen Sprünge macht. Du kannst entweder die Zeit mit einer Uhr messen (was eher unpraktisch ist), die Atemzüge zählen oder einfach alles geschehen lassen und an nichts denken. Zumindest ab und zu solltest du aber auf die eine oder andere Art eine Messung durchführen, um deinen Fortschritt zu überprüfen.

Der Kung Fu-Legend Hoong Hei Koon, dessen Spezialität das Triple Stretch-Set (auch Great Majestic Set oder Tai Hoong Kuen) war, wird nachgesagt, dass er täglich 2 Stunden im Reiterstand verbracht hat. Ebenso wie er soll auch der berühmte Yang Lu Chan, der Begründer des Yang-Stil im Tai Chi Chuan, „unbewegbare Wurzeln“ entwickelt haben. Obwohl es mehrere Männer gleichzeitig versucht haben, konnten sie sie nicht vom Platz bewegen. Auch in Shaolin Wahnam haben ein paar meiner großen Geschwister diese Fähigkeit entwickelt.


Unbewegbare Wurzeln im Reiterstand

Wie ich selbst auch schon feststellen durfte, ist Sifu Andrew Barnett
(Chief Instructor Shaolin Wahnam Switzerland) nicht vom Platz zu bewegen.


Dank unserer effektiven und effizienten Methodik müssen wir nicht so viel Zeit für das Training aufbringen. Auch ist der Nutzen unbewegbarer Wurzeln im heutigen Alltag eher gering. Während der Kampfaspekt für die früheren Meister oft lebensnotwendig war, müssen wir uns heutzutage zum Glück selten verteidigen und nutzen die aufgebaute Energie zur Erhaltung der Gesundheit und Steigerung der Vitalität. Natürlich können wir sie aber auch jederzeit wieder für den Kampf abziehen und verwenden. Der Nutzen unseres Trainings ist also nicht so einseitig wie früher, sondern gut balanciert.

Für viele Schulen war es sicher ein Grund Zhan Zhuang aus ihrem Trainingsprogramm zu streichen, dass bei fehlerhafter Ausübung auch negative Effekte, wie Schmerzen und Beklemmungen, eintreten können.

Dies ist alles kein Thema für uns, schließlich haben wir den Qi Flow! Er dient uns im Standtraining als Sicherheitsventil und verstärkt dabei auch noch den Effekt der inneren Kraft. Außerdem verteilt er das Qi auf den ganzen Körper, anstatt es exklusiv an einzelnen Stellen zu bündeln. Dieser Effekt verleiht uns Vitalität und Kraft für alle Tätigkeiten des Alltags.

Bewegen in Ständen

Ein scheinbarer Widerspruch, ist einer der wichtigsten Teile unseres Trainings, insbesondere für AnfängerInnen, nämlich „Bewegen in Ständen“. Also was jetzt? Bewegen oder stehen? Beides!

Die Stände sind nicht an einen Platz gebunden. Yin und Yang gehen ständig ineinander über. Nach jedem Schritt nehmen wir sofort wieder eine eingelernte Standposition ein.

Wenn man einem Kung Fu-Schüler während des Trainings „Stop!“ zuruft, sollte er sich beim Einfrieren stets in einem Stand befinden. Wenn die Vorführung eines Sets aufgenommen wird, sollte man jederzeit ein perfektes „Standbild“ aus dem Video kopieren können.

Sich in Ständen zu bewegen ist viel energiesparender als ständig herumzuhopsen und bietet in jeder Kampfsituation die größtmöglichen Vorteile.

Nach dem Erlernen der wichtigsten Stände, widmen wir dem Bewegen in Ständen einige Zeit bevor wir dann sukzessive Handformen hinzufügen.

Das Schlagwort für diesen Teil des Trainings ist „Yin und Yang unterscheiden“. Dies macht es uns möglich uns agil, elegant und sicher fortzubewegen. Unsere SchülerInnen lernen dieses Prinzip bereits in den ersten Lektionen kennen. Aber soviel sei schon mal verraten:

Bevor du nach rechts gehst, gehe nach links. Bevor du nach links gehst, gehe nach rechts.
Bevor du nach vorne gehst, gehe zurück. Bevor du zurück gehst, gehe nach vorne.

Shen-Fa

In vielen Situationen ist es aber nicht einmal nötig überhaupt einen Schritt zu machen! Insbesondere im Tai Chi Chuan, aber auch im Shaolin Kung Fu, verwenden wir „Shen-Fa“, also „Körperbewegung“. Ohne die Füße bewegen zu müssen, können sich Praktizierende durch Sinken vor Angriffen in Sicherheit bringen. In vielen Techniken ist außerdem bereits ein Konter mit inbegriffen.

Typische Techniken hierfür sind zum Beispiel „Immortal Waves Sleeves“, „Green Dragon Shoots Pearl“ und „Low Stance Single Whip“ im Tai Chi Chuan bzw. „Tame Tiger with String of Beads” und “Hungry Tiger Catches Goat” im Shaolin Kung Fu.


Shen-Fa in Green Dragon Shoots Pearl

Shen-Fa in der Tai Chi Chuan-Technik „Green Dragon Shoots Pearl“

Fazit & Trainingsanweisungen

In der Ausbildung für Shaolin Kung Fu und Tai Chi Chuan ist das Standtraining nicht wegzudenken. Es verschafft dir alles, was du für die Ausübung der inneren Kampfkünste benötigst. Eine stabile Basis, Sicherheit, Agilität, einen klaren Geist und vor allem innere Kraft. Darüber hinaus unterstützt es die Gesundheit, gibt dir eine aufrechte Haltung sowie reichlich Vitalität und Energie für den Alltag.

Natürlich musst du keine Kampfkunst ausüben, um von der Zhan Zhuang-Praxis zu profitieren. Wenn Qi Gong-SchülerInnen weit genug fortgeschritten sind und bereits über eine gute und robuste Gesundheit verfügen, können auch sie sich dem Standtraining widmen. So mancheR hat sich nach ein paar Monaten des Qi Gong-Trainings dann fit genug gefühlt, um auch mit einer Kampfkunst beginnen zu können. Notwendig ist das aber nicht.

Es ist allerdings essenziell Zhan Zhuang nicht auf eigene Faust zu erlernen, um sicher und effizient voranzuschreiten. Daher solltest du unbedingt nach Einweisung und unter Aufsicht eines authentischen Meisters/einer Meisterin praktizieren.

Um die Beine nicht zu stumpf werden zu lassen und das Training ausgewogen zu gestalten, praktizieren wird zusätzlich eine wunderbare Übungsserie, „The Art of Flexibility“. Diese verhilft dir zu agilen und – wie der Name schon verrät – flexiblen Beine. Dazu aber später mehr.

In weiteren Artikeln findest du die jeweiligen Stände für Shaolin Kung Fu Level 1 und ab Level 2 sowie für Tai Chi Chuan.

Zu Beginn deiner Ausbildung solltest du einmal täglich üben.

Als FortgeschritteneR ist auch einmal pro Woche ausreichend.

Als MeisterIn genügt es auch einmal pro Monat.

Genieße das Standtraining und steigere die Dauer in kleinen Schritten.
Bleib also nicht auf deinem Stand stehen! Oder doch? ;)


Zhan Zhuang anywhere - US Edition (deutsche Version)

Auch wenn Shaolin Qi Gong eine ernsthafte und tiefgründige Kunst ist,
können wir unseren Spaß bei der Praxis haben.
In Anlehnung an „Planking“ und ähnliche Internet-Trends ist dieses Video
bei einem USA-Urlaub entstanden, auch wenn die antike Kunst des Qi Gong bewiesen hat,
dass sie weit mehr ist als ein kurzlebiger Trend.

Die gewählten Orte wurden für Unterhaltungszwecke gewählt.
Tipps für die Auswahl eines geeigneten Trainingsortes findest du hier.


Autor: Sifu Leonard Lackinger

 



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